Montag, 4. Januar 2016

Regale voller Schallplatten - Im Orbit von Spotify, Netflix und AmazonPrime

Meine Eltern sammelten früher alte Möbel. Möbel aus vergangenen Jahrhunderten. Ich sammle heute mediale Veränderungen. Was das heißt? Na, ich lass mich auf mediale Antiquitäten ein. Gestern saß ich zum Beispiel in einem Restaurant. An den Wänden bis unter die Decke Regale mit Schallplatten. Ein irres Konvolut aus einzelnen Langspielplatten und ganzen LP-Boxen. Hauptsächlich Klassik und ein wenig Jazz. Aber tausende von Platten. Leicht hätte ich behauptet, alle jemals erschienen Klassik-Alben hätte dort jemand akribisch zu einer unglaublich beeindruckenden Sammlung zusammengetragen, zu einer medialen Antiquität (aus heutiger Sicht).

Das Besondere daran, es sind keine Medien aus längst vergangenen Jahrhunderten, sondern gerade mal 30 Jahre alte Tonträger, die für mich als Kind und Jugendlicher - neben den Tonbändern und Kassetten - ein großes Glück bedeuteten. LP's waren sowas wie die Ikonen meiner Jugend. Im Studium entdeckte ich dann mit den CDs auch die klassische Musik für mich. Ich kann mich noch gut an die stillen Abende mit Alfred Brendel erinnern, das Ohr ganz nah an der klaren, kalten Perfektion des auf CD aufgezeichneten Klavierspiels, das mir ein neues Gefühl für die Musik gab. Später habe ich sogar ganze Wagner-Opern gehört und mich in die Konzertsäle der Welt gedacht und gehört. Kurt Masur dirigierte damals in meiner Studentenbude.

Die CDs sind noch da, sogar abspielbereit. LPs lagern auch auf dem Dachboden, ein Plattenspieler fehlt dagegen. Daneben liegen selbst aufgenommene Audio-Kassetten, neben ein paar alten Video-Kassetten, für die auch der Video-Recorder längst als Elektroschrott entsorgt wurde.

Die Welt hat sich weitergedreht. So wie der Plattenspieler. In einem fort. In unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Und die Welt lässt die alten Medien eben auch alt aussehen. Sie sind Relikte einer vergangenen Zeit, so eine Art Ursuppe unserer Medien, die damals auch noch nicht "Medien" hießen. Heute wirkt ein solches Regal mit alten LPs wie Großvaters Erinnerungen aus dem Krieg. Zeugnisse einer längst vergangenen Epoche. Für die meisten eben nur noch eine Antiquität. Das Heute heißt Digitalisierung.

Die Digitalisierung hat uns verändert. Hat die Medien verändert. Hat unsere Wahrnehmung von Musik, Filmen und unseren Umgang damit gewandelt. Wir finden uns heute in einer Welt der Smartphones, des Wlan und der sozialen Medien wieder. Am Ende dieses Prozesses steht eine Dematerialisierung, so als hätten wir all' die Langspielplatten und Videokassetten mithilfe Scottys Beamer im Raumschiff Enterprise in die unendliche Weiten geschickt. Spotify verwandelt die Regale voller Musik in eine Idee. Die Idee, Zugriff auf sämtliche, jemals erschienenen Alben (zumindest dieser Begriff aus der Urzeit hat sich noch erhalten, und erzeugt im Bewusstsein ein Bild eines Plattencovers) zu haben. Die Haptik der Schallplatte ist verloren gegangen, aber die bloße Musik schwirrt im Weltraum des Digitalen umher, zugänglich für alle, ohne Exklusivität des Besitzes.

Doch gleichzeitig verlieren wir das Gespür für den Ort, den Träger und die Menge. Wo alles überall verfügbar ist, wissen wir gar nicht mehr um das, was wir zuerst hören, sehen, aufnehmen sollen. Die Auswahl an Serien, Filmen und weiteren Angeboten bei Netflix und AmazonPrime kann auch überfordern und lässt viele immer noch im klassischen Fernsehformat schauen. Zwanzig Uhr Tagesschau, Zwanzigfünfzehn Tatort (obwohl beides auch zeitversetzt und abrufbar zur Verfügung stände). Die alten Gewohnheiten haben ihren Grund, sie sind Träger der Orientierung und stecken tief im Menschen. Der Mensch mag zwar immer wieder neue Angebote und eine große Auswahl, doch dort, wo er in der Anzahl den Überblick verliert, rudert er zurück oder lernt neu.

Dort sind wir gerade. Wir lernen neu. Technik hilft uns. Gute Oberflächen, wie die von Netflix, Spotify oder dem Amazon FireStick erleichtern den Zugang. Die Qualität ist berauschend, der Weg vom Plattenteller zur Smartphone-Oberfläche ist gelungen. Für uns Fünfzigjährige ist es der Quantensprung, die Jugend kennt nur noch diese Oberfläche. Einzig bei den Büchern kommt es zu einer Gegenbewegung. Zwar nehmen ebooks einen immer breiteren Raum ein, aber das Zurück zum gedruckten Buch ist auch überall zu spüren. Die Menschen sehnen sich dann doch nach Materialisierung und haptischer Sinnlichkeit. Ein gut gefülltes Bücherregal wird auch in 50 Jahren noch ein Ausdruck von Belesenheit und Kultur sein. Ein Lächeln, wie bei den Regalen voller Schallplatten, wird das nicht auslösen, denn es kann mehr sein, als nur Speicher und Inhaltscontainer.

Wir befinden uns derweil in einer Zwischenwelt. Einem sowohl als auch. Noch sind Antiquitäten in Nutzung, aber schon bald werden kaum noch CDs oder DVDs gekauft. Da, wo alles immateriell und auch viel günstiger zur Verfügung steht, wird die Masse der Konsumenten sich vom Ton- und Bildträger im klassischen Sinne verabschieden und ihre Verhaltensweisen verändern. Bis dahin werden wir in einer Welt der Gegensätze und Gleichzeitigkeiten leben. Bis zu dem Zeitpunkt, wo die für uns heute unvorstellbare nächste mediale Revolution Spotify, Netflix und Co. ins Nirvana einer längst vergangenen Zeitrechnung spülen wird. Die kann man sich dann allerdings nicht ins Regal stellen, hier bleibt dann nur ein Funken der Erinnerung, der mit den Jahren schnell verblasst. Eine unsichtbare Antiquität sozusagen. Beam me up, Scotty!


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